G1/22 und G2/22 Verweisung an die Große Beschwerdekammer des EPA – Zuständigkeit und Gültigkeit der Priorität
[25.02.2022 – Dr. Eva Bock & Yanjie Li]
In letzter Zeit häufen sich die Streitigkeiten vor dem Europäischen Patentamt über das Prioritätsrecht. Um eine Priorität wirksam in Anspruch nehmen zu können, ist es entscheidend, sich nicht nur auf den beanspruchten Gegenstand zu konzentrieren, sondern auch die formale Berechtigung zur Inanspruchnahme der Priorität muss erfüllt sein. Zu letzterem wurden der Großen Beschwerdekammer zwei Fragen vorgelegt, die erhebliche Auswirkungen auf die Art und Weise des Prioritätszugangs in Europa haben könnten.
Zusammenfassung
Art. 87 (1) EPÜ sieht unter anderem vor, dass nur der Anmelder der früheren Anmeldung oder sein Rechtsnachfolger das Recht hat, die Priorität einer Anmeldung zu beanspruchen, die dieselbe Erfindung betrifft. Daher verlangt das Europäische Patentamt (EPA) in der gängigen Praxis, dass der Anmelder oder sein Rechtsnachfolger zu den Anmeldern einer später eingereichten europäischen Patentanmeldung gehören muss. Die Situation wird jedoch kompliziert, wenn der Inhaber des Prioritätsrechts zu den Anmeldern einer internationalen PCT-Anmeldung gehört, aber nicht als Anmelder vor dem EPA genannt ist.
In der konsolidierten Verhandlung der beiden Beschwerdesachen T 1513/17 und T 2719/19 hat die Technische Beschwerdekammer 3.3.04 des EPA beschlossen, der Großen Beschwerdekammer (GBK) gemäß Art. 112 (1) (a) EPÜ die folgenden Fragen vorzulegen:
I. Überträgt das EPÜ dem EPA die Zuständigkeit für die Entscheidung, ob ein Beteiligter zu Recht behauptet, Rechtsnachfolger im Sinne von Artikel 87 (1) b) EPÜ zu sein?
II. Wenn Frage I bejaht wird:
Kann sich ein Beteiligter B wirksam auf das in einer PCT-Anmeldung beanspruchte Prioritätsrecht berufen, um Prioritätsrechte nach Artikel 87 (1) EPÜ in Anspruch zu nehmen, wenn
1. eine PCT-Anmeldung den Beteiligten A als Anmelder nur für die USA und den Beteiligten B als Anmelder für andere benannte Staaten einschließlich des regionalen europäischen Patentschutzes benennt und
2. die PCT-Anmeldung eine Priorität aus einer früheren Patentanmeldung beansprucht, in dem der Beteiligte A als Anmelder benannt ist, und
3. die in der PCT-Anmeldung in Anspruch genommene Priorität mit Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft im Einklang steht?
Diese Fragen, die jetzt als G 1/22 und G 2/22 der Großen Beschwerdekammer des EPA vorgelegt wurden, lassen sich unter zwei allgemeinen Aspekten des Prioritätsrechts zusammenfassen:
1. Gibt das EPÜ dem EPA die Befugnis zu entscheiden, ob eine Person, die eine Priorität beansprucht, „Rechtsnachfolger“ im Sinne von Art. 87 (1) b) EPÜ ist?
2. Kann ein sogenannter PCT-Gemeinschaftsanmelder-Ansatz anerkannt werden, insbesondere für die Euro-PCT-Anmeldung? Der PCT-Gemeinschaftsanmelder-Ansatz bezieht sich auf das Konzept, dass, wenn eine PCT-Anmeldung von Gemeinschaftsanmeldern eingereicht wird, die zwei oder mehr Parteien umfassen, und einer der Anmelder der Anmelder oder Rechtsnachfolger des Anmelders der früheren Anmeldung ist, das Prioritätsrecht, das dieser Partei zusteht, stillschweigend mit den anderen Parteien geteilt wird.
Eine Frage der Fakten
In der ersten Rechtssache T 1513/17 wurde die Entscheidung einer Einspruchsabteilung angefochten, das europäische Patent EP 1755674 B1 zu widerrufen. Das besagte Patent wurde als Euro-PCT-Anmeldung eingereicht. Wie in Abbildung 1 dargestellt, beanspruchte das streitige Patent die Priorität einer vorläufigen US-Patentanmeldung, bei der die Erfinder (R, W und Z) als Anmelder genannt waren. In der anschließenden PCT-Anmeldung wurden die Erfinder (R, W und Z) jedoch nur für die Vereinigten Staaten als Anmelder benannt, während in allen anderen benannten Ämtern, einschließlich des Europäischen Patentamts, als Anmelder andere Parteien (A und U) als die Erfinder bezeichnet wurden.
In der zweiten Rechtssache, T 2719/19, ging es um die Beschwerde gegen die Entscheidung einer Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung EP 16160321 zurückzuweisen. Bei dieser Anmeldung handelt es sich um die oben erwähnte Teilanmeldung EP‘ 674. Daher stellt sich in diesem Verfahren dieselbe Prioritätsfrage wie in Abbildung 1 gezeigt, nämlich ob die Anmelder der Euro-PCT-Anmeldung (A und U) berechtigt sind, das Prioritätsrecht von R, W und Z in Anspruch zu nehmen, und ob das EPA befugt ist, eine solche Beurteilung vorzunehmen.
Zuständigkeit des EPA
In den von der Beschwerdeführerin und den Beschwerdegegnern formulierten Vorlagefragen wurde die Zuständigkeitsbefugnis des EPA zur Entscheidung über den Prioritätsanspruch in Frage gestellt. Obwohl die Kammer feststellte, dass keine überzeugenden Argumente vorgebracht worden waren, beschloss sie, diese Verweisung an das GBA als Gelegenheit für eine endgültige Entscheidung zu nutzen.
Zur Frage der Priorität stellte die Kammer fest, dass die Zuständigkeit des EPA in mehreren Fällen wie T 239/16, T 419/16 und T 845/19 in Frage gestellt worden war. In T 139/16 und T 419/16 wurde behauptet, dass die Befugnis, über den Anspruch auf das Prioritätsrecht zu entscheiden, parallel zu der Befugnis zu sehen ist, zu bestimmen, ob ein Beteiligter Anspruch auf eine bestimmte Patentanmeldung hat, die das EPA laut den Travaux Préparatoires nicht hat.
Die Kammer gab jedoch der in T 844/18 vertretenen Position den Vorzug, die besagt, dass „es keine Rechtsgrundlage gibt, die das EPA von der Verpflichtung entbindet, zu prüfen, wer die in Artikel 87 (1) EPÜ vorgeschriebene Handlung der Patentanmeldung vorgenommen hat„. Es wird angenommen, dass die Hürde, die ständige Praxis der Beschwerdekammern bei der Entscheidung über Prioritätsrechte im Allgemeinen, einschließlich des Anspruchs auf das Prioritätsrecht, zu kippen, sehr hoch sein sollte, um die möglichen störenden Auswirkungen einer Änderung zu vermeiden.
Ansatz des gemeinsamen Antragstellers
Unter der Annahme, dass das EPA befugt ist, den Rechtsnachfolger zu beurteilen, ist die zweite zu beantwortende Frage, ob die Priorität in dem betreffenden Fall wirksam in Anspruch genommen wurde.
Um dieses Problem zu lösen, machte die Beschwerdeführerin in den anhängigen Verfahren geltend, dass der in der Rechtsprechung des EPA entwickelte „joint-applicant approach“ analog auf das streitige Patent angewendet werden könne, da die Euro-PCT-Anmeldung die Wirkung einer regulären nationalen Anmeldung nach Art. 11 (3) PCT und Art. 153 (2) EPÜ habe. In Ermangelung einer einschlägigen PCT-Bestimmung sollte das EPÜ angewendet werden.
Wie in A-III 6.1 der Richtlinien für die Prüfung beim EPA beschrieben,
„Bei gemeinsamen Anmeldern, die die spätere europäische Patentanmeldung einreichen, genügt es, wenn einer der Anmelder der Anmelder oder Rechtsnachfolger des Anmelders der früheren Anmeldung ist. Eine besondere Übertragung des Prioritätsrechts auf die anderen Anmelder ist nicht erforderlich, da die spätere europäische Anmeldung gemeinsam eingereicht worden ist„.
Ferner wurde auf Art. 118 EPÜ verwiesen, der Folgendes vorsieht:
„Sind die Anmelder oder Inhaber eines europäischen Patents in Bezug auf verschiedene benannte Vertragsstaaten nicht identisch, so gelten sie für die Zwecke des Verfahrens vor dem Europäischen Patentamt als gemeinsame Anmelder oder Inhaber. “
Die Kammer war anderer Meinung als der Beschwerdeführer und vertrat die Auffassung, dass die Bestimmung des Art. 118 EPÜ, auch wenn sie eine Rechtsgrundlage für den Ansatz der gemeinsamen Anmelder bietet, nur auf die Anmelder einer europäischen Patentanmeldung wirkt. Im vorliegenden Fall gehören die Prioritätsrechtsinhaber R, W und Z jedoch nicht zu den Anmeldern des streitigen europäischen Patents.
Daher stellt sich die Frage, ob der oben beschriebene PCT-Ansatz für gemeinsame Anmelder für diesen Fall entwickelt werden kann und welches Rechtssystem für die Bewertung angewendet werden sollte.
Rechtsgrundlage für den Ansatz der gemeinsamen PCT-Antragsteller
Der Beschwerdegegner I argumentierte, dass der einheitliche Charakter des Prioritätsrechts im PCT die Rechtsgrundlage für diesen Ansatz bilden könne. Die Kammer war nicht überzeugt und vertrat die Auffassung, dass die Gültigkeit eines solchen Ansatzes im Lichte der Pariser Verbandsübereinkunft beurteilt werden sollte, da der PCT keine eigenen Regeln bezüglich der Wirkung eines Prioritätsanspruchs aufstellt, sondern auf Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft verweist (Art. 8(2)(a) PCT).
Zur Unterstützung der Anerkennung des Ansatzes des gemeinsamen Anmelders legte der Rechtsmittelführer das Urteil des Berufungsgerichts in der Rechtssache Biogen/Genentech gegen Celltrion vor. In diesem Fall argumentierte das Berufungsgericht, dass die lex loci protectionis auf die Rechtspriorität anwendbar sei, da nach Art. 2(1) der Pariser Verbandsübereinkunft die Voraussetzungen für die Erteilung und Nichtigerklärung von Patenten in einem bestimmten Land nach dem nationalen Recht bestimmt werden und das Prioritätsrecht Teil dieser Voraussetzungen ist. Für die Euro-PCT-Anmeldung sollte das EPÜ das anwendbare System sein.
Die Kammer fand diese Methode ansprechend. Die Anwendung der lex loci protectionis kann jedoch zu Rechtsunsicherheit bei der Beurteilung des Ansatzes der PCT-Gemeinschaftsanmelder führen. Zur Beurteilung des Formerfordernisses für die Übertragung des Prioritätsrechts enthält das EPÜ selbst keine Kollisionsnormen, und diese Frage wurde von der GBK nicht behandelt. In mehreren Entscheidungen der Beschwerdekammern wurde das Formerfordernis für die Übertragung des Prioritätsrechts durch Vereinbarung anhand des nationalen Rechts beurteilt (II-d 2.2.2 Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 2019).
In Ermangelung von EPÜ-Bestimmungen über Formerfordernisse für die Übertragung von Prioritätsrechten durch Vereinbarung könne jedoch argumentiert werden, dass die gegenseitige Einreichung einer PCT-Anmeldung durch die Parteien A und B eine stillschweigende Vereinbarung darstelle, die das Prioritätsrecht von Partei A auf Partei B übertrage, wenn Partei B als Anmelder für das EPÜ-Gebiet und Partei A als Anmelder für die USA benannt sei. Darüber hinaus kann dieser Ansatz bei der Anwendung anderer nationaler Rechtssysteme, die keine Formalitäten erfordern, überzeugen.
Ein ähnlicher Gedankengang wurde auch in einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH X ZR 49/12) vertreten. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass die Gültigkeit des deutschen Teils eines europäischen Patents, das die Priorität eines nationalen deutschen Patents beansprucht, im Lichte der deutschen Kollisionsnorm zu beurteilen ist. Da das deutsche Recht keine besonderen Formalitäten für die Übertragung vorschreibt, führte die Tatsache der gegenseitigen Anmeldung zu dem Schluss, dass eine stillschweigende Vereinbarung zwischen den Parteien vorlag. In einem Urteil des Vereinigten Königreichs „KCI licensing Inc. u.a. gegen Smith & Nephew PLC u.a.“ vertrat das Gericht ebenfalls die Auffassung, dass aus der PCT-Anmeldung eine konkludente Vereinbarung über die Übertragung des Prioritätsrechts abgeleitet werden könne.
In Anbetracht der explodierenden Zahl internationaler Anmeldungen wird die Antwort der GBK daher eine Lücke füllen und eine Rechtsprechung für eine große Zahl von Fällen liefern, die sich mit ähnlichen Situationen befassen. Wir freuen uns auf die weitere rechtliche Klärung durch die Große Beschwerdekammer.